Johannes Esper: Zu viel und nie genug
September 2025, Kunstverein Brackenheim
Der Titel dieser Ausstellung klingt paradox. „Zu viel und nie genug“ – das sind zwei gegensätzliche, antipodische Formeln. Auf der einen Seite das „Zu viel“, das Bilder hervorruft von Überfluss und von einer Welt, die überladen ist mit Dingen, Material und Eindrücken. Auf der anderen Seite das „Nie genug“ – also eine unstillbare Sehnsucht, ein Suchen, das kein Ende hat.

In ebendiesem Spannungsfeld bewegt sich die Kunst von Johannes Esper: zwischen Überfülle und Mangel, zwischen Zufall und Komposition, zwischen Alltagsgegenstand und ästhetischer Erhabenheit. 1971 in Cochem an der Mosel geboren, lebt und arbeitet Johannes Esper in Karlsruhe und einer Kleinstadt in Frankreich. Er hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe Bildhauerei studiert, wurde mit einem Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg ausgezeichnet und hat u. a. in der Bundeskunsthalle Bonn, im Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen, im Museum Wiesbaden und in der Kunsthalle Baselland ausgestellt. […]
Wenn man ihn nach einem „Initialmoment“ fragt, nach einem Schlüsselerlebnis in der Esper’schen Künstlervita, dann liegt dieses viele Jahre vor seinem Studium. Im Alter von 17 Jahren besuchte Johannes das Folkwang-Museum in Essen, wo gerade eine große Edward-Munch-Ausstellung sehen war. Was ihn damals „umgehauen“ hat, war jedoch nich Munch, sondern ein Werk in der ständigen Sammlung des Museums: Barnett Newmans Gefesselter Prometheus (1952). Ein abstraktes Gemälde, Kunstharz auf Leinwand. Vor genau dieser Arbeit hatte Esper den Gedanken: „So etwas will ich auch machen!“ Es folgte der erste eigene Versuch zu Hause – auf Packpapier. Damals eröffnete sich für den jungen Esper eine neue Welt, die Welt der Kunst.



Heute, fast vierzig Jahre später, ist Johannes Esper ein Künstler, der mit Dingen arbeitet, die andere ausrangieren und wegwerfen. Holz, Metall, Plastik, Pappe, Stoff, Kochtöpfe, Plüschtiere, alte Fahrradteile – das sind seine Materialien. Er sammelt sie, kombiniert sie, erprobt, wie sie aufeinander und miteinander wirken, welche Spannungen oder Harmonien entstehen, wenn man sie zusammenfügt und neu arrangiert. Es sind Fundstücke, Reste, Abfallprodukte – und doch gewinnen sie bei Esper eine poetische, manchmal fragile, manchmal trotzige Form. Seine Frau, die Künstlerin Ulla von Brandenburg, hat einmal gesagt: Er suche „das Ganze im Kaputten“. Eine treffende Formulierung. Denn Espers Arbeiten zeigen uns, dass im Fragment, im Gebrochenen und Obsoleten ein Potenzial an Möglichkeiten steckt. […]
Johannes Esper vertraut auf Intuition und Instinkt, auf den freien Schaffensprozess. Er braucht die Freiheit. Überraschungen sind für ihn wesentlich – sowohl die erfreulichen als auch die störenden, irritierenden Überraschungsmomente. Sie bringen ihn weiter, eröffnen neue Wege. Wann ist eine Arbeit fertig? Das wisse er einfach, sagt er. Entweder es fügt sich zu einem Ganzen oder es wird verworfen.
Im Brackenheimer Kunstverein präsentiert der Künstler neuste Skulpturen. An den Wänden hängen Assemblagen aus Brettern, Blechen, Rohren, Kinderspielzeug, Plüschfiguren, Glas. Ein Stofftier klemmt zwischen Metall und Holz – es wirkt fast verloren, ein Rest von Kindheit, inmitten rauer Materialien. In einer anderen Arbeit hängt ein Kochtopf an einem Ast, daneben weißes Plastik. Neben Fundstücken sehen wir auch malerische Eingriffe: farbige Flächen, bearbeitete Bretter. Frei im Raum steht eine Skulptur aus verbogenen Metallstangen und einem Fahrradrad. Das Konstrukt erscheint geradezu tänzerisch, zugleich reduziert auf das Wesentliche. In einer anderen Arbeit hat Esper farbige Paneele zu einem Fächer aus Grün- und Gelbtönen zusammengestellt, gleich einem abstrakten Bild. Was alle diese Werke verbindet, ist ihr Schwebezustand: Sie wirken improvisiert, beinahe zufällig – doch zugleich ist spürbar, dass jedes Teil bewusst gesetzt ist. Diese Balance zwischen Zufall und Komposition ist wesentlich für das Schaffen des Künstlers.
Kunsthistorisch betrachtet, hat Espers radikale Position eine längere Tradition. Bereits die Dadaisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten die Kraft des Alltäglichen. Der Philosoph und Kunstkritiker Walter Benjamin erinnert daran, dass die revolutionäre Stärke des Dadaismus gerade darin lag, „die Kunst auf ihre Authentizität zu prüfen“. Er schreibt: „Man stellte Stillleben aus Billetts, Garnrollen, Zigarettenstummeln zusammen, die mit malerischen Elementen verbunden waren. Man tat das Ganze in einen Rahmen. Und damit zeigte man dem Publikum: Seht, Euer Bilderrahmen sprengt die Zeit; das winzigste authentische Bruchstück des täglichen Lebens sagt mehr als die Malerei.“
Der österreichische Dadaist Raoul Hausmann verlas 1918 sein Manifest mit dem Titel Das neue Material in der Malerei und pries dabei die „Vorzüglichkeit der Schlagkraft“ dadaistischer Materialverwertung. Er sprach von ihrem „wirklichen Zustand“: „wunderbare Konstellationen in wirklichem Material, Draht, Glas, Pappe, organisch entsprechend ihrer geradezu vollendeten Brüchigkeit [und] Ausgebeultheit.“ Und weiter: „Die weggeworfene Puppe des Kindes oder ein bunter Lappen sind notwendigere Expressionen als die irgendeines Esels, der sich in Ölfarbe ewig in endliche gute Stube verpflanzen lassen will.“
Johannes Esper knüpft an diese Tradition an. Wie die Dadaisten – und später die Vertreter von Neo-Dada – überführt er Alltagsfragmente in den Kontext der Kunst, schafft neue Konstellationen. Doch tut er das nicht als Provokation gegen das Bürgertum, sondern aus einem instinktiven, poetischen Impuls heraus. Dabei trägt das Material, das er sammelt und neu arrangiert, Gebrauchs- und Erinnerungsspuren. In jedem Holzstück, jedem Plüschtier, in jeder Metallstange steckt eine Geschichte. Espers Arbeiten zeigen: Die Dinge, die uns umgeben und derer wir uns entledigen, haben eine Seele. Sie sind nicht wertlos, nur weil sie aus dem Nützlichkeitszusammenhang gefallen sind. Sie tragen Bedeutungsreste, wecken Erinnerungen, eröffnen Assoziationsräume. Man könnte sagen: Johannes Esper agiert wie ein Archäologe der Gegenwart: der die Relikte des Alltags birgt, um sie als „Reliquien des Profanen“ neu zu lesen und lesbar zu machen.



Dabei geht es nicht um Recycling im engen Sinn, nicht um ein ökologisches Programm – sondern um Transformation. In diesem Umwandeln, in dieser Verzauberung des Materials liegt die eigentliche Poesie von Espers Kunst. Seine Skulpturen sind damit nicht nur ästhetische Gebilde, sondern auch Kommentare auf unsere Zeit. Eine Zeit, die im Überfluss lebt, aber zugleich ständig Mangel empfindet. Eine Gesellschaft, die unablässig produziert und konsumiert, und dabei Unmengen an Abfall erzeugt – materieller wie immaterieller Abfall. Mit seiner Kunst macht Esper diese Reste sichtbar, er würdigt und verwandelt sie. Seine Arbeiten zeigen uns: Das Fragmentarische, das Kaputte, das Ausrangierte und Obsolete ist nicht Ende, sondern Anfang.
„Zu viel und nie genug“ – das meint nicht nur die Fülle und Überfülle von Material, sondern auch unsere Erfahrung beim Betrachten der Esper’schen Skulpturen. Zu viel, um sie mit einem Blick zu überschauen, zu deuten, zu verstehen. Und nie genug, weil diese Arbeiten sich der endgültigen Deutung letztlich entziehen. Sie bleiben offen – auch darin liegt ihre poetische Kraft.
Johannes Esper sagt, je älter er werde, umso weniger wisse er, was Kunst ist. Vielleicht ist genau das die Haltung, die wir heute brauchen: nicht Wissen, sondern Neugier. Nicht Definition, sondern Spiel. Kunst, sagt Esper, braucht die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen – sonst wäre sie bloße Produktion. Lasst uns das „das Ganze im Kaputten“ entdecken.
